1919 – 1920 – 4. Thule Expedition – Knud Rasmussen

Die 4. Thule-Expedition, durchgeführt von Knud Rasmussen zwischen 1919 und 1920, zählt zu den bedeutendsten arktischen Forschungsreisen des 20. Jahrhunderts. Sie kombinierte geografische Entdeckungen mit ethnografischer Forschung und bewältigte extreme Herausforderungen im ewigen Eis Nordgrönlands.

Diese Expedition war nicht nur ein wissenschaftlicher Triumph, sondern auch ein Beweis für den menschlichen Überlebenswillen und interkulturelle Zusammenarbeit.


Ausgangspunkt: Die Thule-Station in Nordwestgrönland

Die Reise startete an der Thule-Station, gegründet 1910 von Rasmussen und seinem engen Vertrauten Peter Freuchen. Die Station diente als logistischer und wissenschaftlicher Außenposten für zahlreiche Expeditionen in den hohen Norden. Ziel der vierten Expedition war die Erkundung der bisher kaum kartierten Gebiete zwischen Thule und der Melville-Bucht, einschließlich einer gefährlichen Überquerung des grönländischen Inlandeises.


Zielsetzung der Expedition

Die vierte Thule-Expedition verfolgte drei zentrale Ziele:

  • Geografische Aufklärung: Kartierung unbekannter Gletscherregionen und Vermessung des Inlandeises

  • Ethnografische Forschung: Sammlung von Mythen, Liedern, Bräuchen und religiösen Vorstellungen der Inuit

  • Naturwissenschaftliche Beobachtung: Messungen von Wetter, Eisbewegungen und Gesteinsformationen


Die Mannschaft – Experten und Inuit im Team

Die Expedition war ein multinationales und interkulturelles Team, bestehend aus:

  • Knud Rasmussen – Expeditionsleiter, Ethnologe

  • Peter Freuchen – Logistiker, Ethnograf, Überlebensexperte

  • Lauge Koch – Geologe, Kartograf

  • Ujarak und Inukitsoq – Inuit-Führer, Jäger und Schlittenexperten

  • Weitere Inuit-Unterstützer – unentbehrlich für Navigation, Jagd und Lebensrettung


Dramatische Ereignisse im Eis

Sturm auf dem Inlandeis

Ein Höhepunkt der Expedition war die Überquerung des grönländischen Inlandeises – ein gefährliches Vorhaben mit Temperaturen von unter -40 °C. Während eines plötzlichen Fallwinds (Piteraq) wurden Zelte zerstört. Die Männer mussten innerhalb kürzester Zeit ein Iglu errichten. Peter Freuchen erlitt Erfrierungen, und zwei Hunde verendeten im Sturm. Die Vorräte mussten rationiert werden, doch durch Disziplin und die Erfahrung der Inuit konnte das Team überleben.

Beinahe-Absturz in der Melville-Bucht

Bei geologischen Arbeiten rutschte ein Expeditionsmitglied auf vereistem Boden beinahe in eine Gletscherspalte. Nur durch ein improvisiertes Rettungsmanöver mit Seilen konnte der Forscher geborgen werden. Die Szene zeigte, wie schnell ein wissenschaftlicher Ausflug im Eis zur Lebensgefahr wird.

Rückkehr durch schmelzendes Eis

Auf dem Rückweg stießen die Forscher auf Schmelzwasserströme, die das Eis unberechenbar machten. Ein Schlitten brach ein, das Gepäck drohte verloren zu gehen. Nur mit vereinten Kräften konnte das Team die lebenswichtige Ausrüstung retten.


Wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften

Trotz aller Gefahren erzielte die 4. Thule-Expedition beachtliche Resultate:

Geografie & Geologie

  • Präzise Kartierung der Nordwestküste Grönlands

  • Neue geologische Erkenntnisse durch Gesteinsanalysen

  • Dokumentation von Gletscherbewegungen und Eisdynamik

Ethnografie

  • Sammlung überlieferter Mythen, Gesänge und spiritueller Vorstellungen der Inuit

  • Teilnahme am Alltagsleben der Inuit, Respektvolle Begegnung auf Augenhöhe

  • Dokumentation religiöser Rituale und sozialer Strukturen

Naturbeobachtung

  • Klimadaten und Wetterphänomene im arktischen Raum

  • Tierbeobachtungen: Polarfüchse, Robben, Schnee-Eulen


Bedeutung der Expedition

Die 4. Thule-Expedition markierte einen Wendepunkt: Sie zeigte, dass Forschung in der Arktis nur durch die Zusammenarbeit mit der indigenen Bevölkerung erfolgreich sein kann. Rasmussen behandelte die Inuit nicht als „Forschungsobjekte“, sondern als gleichwertige Partner mit unverzichtbarem Wissen.

Diese Haltung machte ihn zu einem Vorreiter in der modernen Ethnografie.


Fazit: Mehr als nur eine Expedition

Die vierte Thule-Expedition war nicht nur eine Reise durch Schnee und Eis – sie war eine Reise zu den Wurzeln menschlicher Anpassung, Zusammenarbeit und kultureller Vielfalt. Die dramatischen Herausforderungen, denen sich die Expedition stellen musste, machen sie bis heute zu einem Symbol für Mut, Wissenschaft und Respekt.

Knud Rasmussen legte mit dieser Reise den Grundstein für spätere Expeditionen – insbesondere für die legendäre 5. Thule-Expedition, die ihn bis nach Alaska führen sollte.