Eine der tragischsten Arktisexpeditionen der Geschichte
Einleitung
Die Lady-Franklin-Bay-Expedition, geleitet von Adolphus Greely, war eine der ambitioniertesten und zugleich tragischsten Expeditionen in der Geschichte der Arktisforschung. Sie fand in den Jahren 1881 bis 1884 statt und hatte sowohl wissenschaftliche als auch geografische Ziele. Im Rahmen des Ersten Internationalen Polarjahres (1882–1883) sollte die Expedition wichtige meteorologische, astronomische und magnetische Daten sammeln. Gleichzeitig war es ein Prestigeprojekt der Vereinigten Staaten, um ihre wissenschaftliche und explorative Kompetenz zu demonstrieren.
Doch trotz einer sorgfältigen Planung wurde die Expedition von katastrophalen Fehlschlägen und extremen Bedingungen heimgesucht. Die Abhängigkeit von Versorgungsmissionen, die das Expeditionslager nicht erreichen konnten, führte schließlich zur Eskalation der Situation. Die Expeditionsteilnehmer kämpften monatelang ums Überleben, bis eine Rettungsmission im Jahr 1884 die letzten sechs Überlebenden fand.
Dieser Aufsatz analysiert die verschiedenen Phasen der Expedition, von der Planung und Durchführung über die tragische Wende bis hin zu ihrer Rettung und dem langfristigen wissenschaftlichen Erbe.
1. Hintergrund der Expedition
1.1 Die Ära der Polarforschung im 19. Jahrhundert
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war geprägt von intensiver Erforschung der Polarregionen. Die technologischen Fortschritte in Navigation, Schiffbau und meteorologischen Messungen ermöglichten ehrgeizige Expeditionen in zuvor unzugängliche Gebiete. Die britische Marine und andere europäische Nationen hatten bereits große Expeditionen durchgeführt, die jedoch oft mit erheblichen menschlichen Verlusten verbunden waren.
Das Erste Internationale Polarjahr (1882–1883) war ein multinationales wissenschaftliches Unternehmen, das die Erforschung der Polargebiete koordinierte. Die Vereinigten Staaten wollten sich mit einer eigenen Expedition in den hohen Norden Kanadas einbringen. Die Wahl fiel auf die Lady Franklin Bay auf Ellesmere Island, benannt nach Lady Jane Franklin, der Witwe des berühmten Polarforschers Sir John Franklin, dessen eigene Expedition in den 1840er Jahren tragisch endete.
1.2 Die Auswahl von Adolphus Greely als Expeditionsleiter
Der Führer der Expedition, Adolphus Greely, war ein Offizier des US Army Signal Corps. Obwohl er keine Erfahrung in der Polarforschung hatte, war er ein disziplinierter und erfahrener militärischer Organisator. Die Entscheidung, einen Militärführer anstelle eines zivilen Wissenschaftlers zu ernennen, war umstritten, doch das Signal Corps hatte die Expedition übernommen, um meteorologische Daten für das internationale Polarjahr zu sammeln.
2. Die Reise nach Fort Conger
2.1 Vorbereitung und Abreise
Die Expedition begann offiziell am 7. Juli 1881, als das Expeditionsschiff Proteus von St. John’s, Neufundland, in Richtung Arktis auslief. An Bord befanden sich insgesamt 25 Männer, darunter Soldaten, Wissenschaftler, Ingenieure und der grönländische Eskimo-Führer Jens Edward. Das Schiff war mit wissenschaftlicher Ausrüstung, Verpflegung für mindestens zwei Jahre, Baumaterialien und Ausrüstungsgegenständen wie Schlitten und Zelten voll beladen.
Die Fahrt war geprägt von schwierigen Eisverhältnissen und schlechtem Wetter. Schon früh nach dem Verlassen von Neufundland begegnete die Proteus dem arktischen Packeis, das die Navigation verlangsamte. Mehrmals mussten Eisschollen manuell entfernt oder umfahren werden. Doch dank der Navigationskünste von Kapitän Lt. Ernest A. Garlington und des erfahrenen arktischen Lotsen William F. Kislingbury erreichte die Proteus nach gut einem Monat die Lady Franklin Bay.
2.2 Ankunft und Aufbau von Fort Conger
Am 11. August 1881 ging die Expedition an Land. Die Männer begannen sofort mit dem Entladen des Schiffes und dem Bau ihres Basislagers, Fort Conger, auf Ellesmere Island. Fort Conger wurde so konstruiert, dass es den extremen Bedingungen der arktischen Winter standhalten konnte. Die Hauptunterkunft war ein Holzhaus, dessen Wände mit Moos, Torf und Segeltuch zusätzlich isoliert wurden. Daneben entstanden Vorratslager, Werkstätten und Messstationen.
Besonderes Augenmerk lag auf der Installation wissenschaftlicher Einrichtungen:
- Eine meteorologische Station zur Messung von Temperatur, Luftdruck und Wind.
- Eine magnetische Beobachtungsstation zur Erfassung geomagnetischer Schwankungen.
- Astronomische Geräte zur Bestimmung der Positionen von Himmelskörpern.
- Ein Netz von Schlittenrouten für spätere Expeditionen.
2.3 Der Alltag in Fort Conger
Die ersten Monate in Fort Conger verliefen geordnet. Es herrschte eine strikte militärische Disziplin. Greely führte einen festen Tagesablauf ein: wissenschaftliche Arbeit, körperliche Übungen, Pflege der Ausrüstung und regelmäßige medizinische Kontrollen.
Doch schon bald zeigten sich die ersten Anzeichen psychischer Belastung. Die Polarnacht, in der für mehrere Monate völlige Dunkelheit herrschte, setzte der Moral der Männer zu. Einige litten unter Depressionen, andere unter Schlafstörungen. Trotz der regelmäßigen medizinischen Versorgung kam es zu ersten Fällen von Skorbut, verursacht durch den Mangel an frischen Lebensmitteln.
2.4 Wissenschaftliche Erfolge und Erkundungen
Trotz dieser Herausforderungen erzielte die Expedition wissenschaftliche Erfolge. Besonders hervorzuheben ist die Erkundungsreise von Lieutenant James Booth Lockwood und Sergeant David Brainard im Mai 1882. Sie erreichten den nördlichsten Punkt, den je ein Mensch betreten hatte: 83°24’N, nahe dem heutigen Alert auf Ellesmere Island.
Lockwood und Brainard durchquerten Eiswüsten, überquerten Gletscher und kartierten bisher unbekannte Regionen. Ihre Berichte und Karten sollten noch Jahrzehnte später von Nutzen sein.
Auch die meteorologischen Daten, die während des gesamten ersten Winters gesammelt wurden, bildeten die umfassendste Wetterbeobachtung der Arktis bis zu diesem Zeitpunkt.
3. Das Drama der Versorgungsschiffe
3.1 Gescheiterte Nachschubversuche 1882
Die Planung der Expedition sah vor, dass jährlich Versorgungsschiffe mit Lebensmitteln, Kleidung und Post geschickt würden. Im Sommer 1882 wurde die Neptune unter dem Kommando von Lieutenant Beebe losgeschickt, konnte Fort Conger jedoch nicht erreichen. Dichtes Packeis blockierte die Zufahrt zur Lady Franklin Bay. Die Vorräte wurden stattdessen an einem provisorischen Depot bei Littleton Island deponiert, weit südlich von Fort Conger.
3.2 Der Untergang der Proteus 1883
1883 wurde ein weiterer Nachschubversuch unternommen. Die ursprüngliche Proteus wurde erneut eingesetzt, diesmal unter dem Kommando von Captain Garlington. Doch auch diese Mission scheiterte: Am 23. Juli 1883 wurde die Proteus von Eis zerschmettert und sank vor Kap Sabine. Die Besatzung konnte sich retten, aber die Vorräte gingen verloren.
Dieser Untergang hatte katastrophale Folgen. Greely und seine Männer warteten vergeblich auf Nachschub. Die Vorräte in Fort Conger reichten nicht mehr lange, sodass Greely beschloss, dem ursprünglichen Notfallplan zu folgen: Wenn bis zum Herbst 1883 keine Versorgung eingetroffen war, sollte die Expedition Fort Conger verlassen und nach Süden zum Depot bei Kap Sabine ziehen.
4. Der Überlebenskampf am Kap Sabine
4.1 Der Rückzug und der lange Marsch
Am 9. August 1883 verließen 25 Männer Fort Conger in mehreren Booten und mit Schlitten. Die Reise entlang der Küste war mühsam, oft mussten sie über treibendes Eis und vereiste Felsen klettern.
Nach wochenlanger Qual erreichten sie am 1. Oktober 1883 Kap Sabine. Doch das dort deponierte Depot war unvollständig. Vieles war von Eisbären geplündert oder durch Schnee und Eis unbrauchbar geworden. Die Männer errichteten eine primitive Unterkunft aus Booten und Segeltuch – sie nannten es ironisch das „Camp Clay“.
4.2 Der Hungerwinter 1883/84
Der arktische Winter 1883/84 war einer der kältesten des Jahrhunderts. Die Temperaturen fielen oft unter -55 °C. Die Vorräte reichten nicht aus, der Skorbut breitete sich aus. Greely rationierte die verbliebenen Nahrungsmittel streng: eine halbe Dose Fleisch pro Mann und Tag.
Einige Männer starben an Erfrierungen, andere an Entkräftung. Als der Tod unausweichlich wurde, versuchten einige, sich durch Diebstahl zusätzliche Nahrung zu sichern. Greely ließ mindestens einen Mann – Private Henry – wegen wiederholten Diebstahls hinrichten. Diese Maßnahme war äußerst umstritten, zeigt jedoch, wie verzweifelt die Lage war.
4.3 Der Verdacht auf Kannibalismus
Als 1884 die Überreste der Expedition geborgen wurden, fehlten einige Körperteile verstorbener Männer. In späteren Untersuchungen wurde von den Überlebenden nur zögerlich darüber gesprochen. Doch Berichte der Rettungsexpedition sowie medizinische Gutachten legen nahe, dass es in den letzten Wochen der Belagerung zu Kannibalismus gekommen war – als letzte Überlebensmaßnahme.
Adolphus Greely hat den Vorwurf nie offiziell bestätigt, jedoch auch nie energisch dementiert. In seinen Memoiren erwähnt er lediglich die „äußerste Not“ und den „Zusammenbruch jeder Zivilisation“ in jenen Tagen.
5. Die Rettung und die Nachwirkungen
5.1 Die Rettung durch Schley
Im Frühjahr 1884 startete endlich eine groß angelegte Rettungsmission unter Leitung von Commander Winfield Scott Schley mit vier Schiffen. Am 22. Juni 1884 erreichte die Flotte Kap Sabine. Was sie dort vorfand, war erschütternd: Nur noch sechs Männer lebten – abgemagert, kaum bei Bewusstsein. Der Rest war tot, viele in ihren Schlafsäcken erfroren.
5.2 Nachwirkungen und Bewertung
Die wissenschaftlichen Erträge der Expedition – darunter umfassende Wetterdaten, geologische Proben, magnetische Messreihen – wurden trotz der Katastrophe in wissenschaftlichen Kreisen hochgeschätzt. Greely selbst wurde zunächst gefeiert, später jedoch für die Vorfälle bei Kap Sabine kritisiert.
Besonders der Kannibalismus-Skandal überschattete lange Zeit die Leistungen der Expedition. Doch mit zunehmendem zeitlichem Abstand wurde Greelys Führung in einer beispiellosen Krisensituation zunehmend anerkannt. Er wurde später zum General befördert und 1935 im hohen Alter von 91 Jahren mit höchsten militärischen Ehren beigesetzt.
6. Fazit
Die Lady-Franklin-Bay-Expedition bleibt eine der dramatischsten Geschichten der Polarforschung. Sie demonstrierte den Ehrgeiz und die Opferbereitschaft der Forscher, aber auch die tödlichen Risiken der Arktis. Die Tragödie lehrte nachfolgende Generationen, Expeditionen sorgfältiger zu planen und bessere Rettungssysteme zu entwickeln. Der Name Greely ist heute untrennbar mit Mut, wissenschaftlichem Ehrgeiz – und den schrecklichen Konsequenzen menschlicher Ausnahmesituationen – verbunden.