1931 – 6. Thule Expedition – Knud Rasmussen

Einleitung: Der Ruf des Nordens

Im Frühjahr 1931, als das arktische Licht nach der langen Polarnacht langsam zurückkehrte, machte sich eine kleine Gruppe mutiger Männer auf den Weg in eine der entlegensten und gefährlichsten Regionen der Welt: den hohen Norden Grönlands. Unter der Leitung des berühmten Polarforschers Knud Rasmussen brach die 6. Thule-Expedition auf – eine Reise, die weit mehr als nur archäologische Forschung versprach. Sie wurde zu einem Kampf gegen Eis, Hunger, Isolation – und gegen die eigene Angst.


Ziele und Vorbereitung

Die Expedition hatte klare wissenschaftliche Ziele: Rasmussen wollte archäologische Beweise für die frühe Besiedlung Nordgrönlands durch die Thule-Kultur finden. Er wollte verstehen, woher die Inuit kamen, wie sie lebten und welche Spuren sie in der kalten Erde Grönlands hinterlassen hatten.

Die Vorbereitungen fanden im Handelsstützpunkt Thule statt. Mit dabei waren der dänische Archäologe Helge Larsen und mehrere erfahrene Inuit, darunter der Jäger Arnarulunnguaq, der Rasmussen schon auf früheren Reisen begleitet hatte. Die Ausrüstung war einfach, aber solide: Hundeschlitten, Zelte, Vorräte für mehrere Wochen – und archäologisches Werkzeug.


Der Aufbruch – In die weiße Einsamkeit

Im März 1931 verließen Rasmussen und sein Team Thule. Die Kälte war erbarmungslos – Temperaturen von unter –40 °C ließen jedes Metall blitzschnell gefrieren. Schon in den ersten Tagen gab es Probleme: Ein Schlitten stürzte auf dem zugefrorenen Fjord in einen Riss im Eis. Die Hunde zogen verzweifelt, doch einer wurde von der Strömung unter das Eis gezogen.

Rasmussen notierte später: „Der Tod ist hier ein ständiger Begleiter. Wir schreiten weiter – stumm, bedrückt, aber entschlossen.“


Ein Schneesturm in Inglefield Land

Nach zwei Wochen Marsch erreichte das Team Inglefield Land, das Ziel ihrer Grabungen. Doch kaum begannen sie mit der Arbeit, zog ein plötzlicher Schneesturm auf. Drei Tage lang waren sie in ihren Zelten eingeschlossen. Die Hunde jaulten, Vorräte wurden knapp, und die Kälte drang durch jede Faser der Kleidung.

Am zweiten Tag des Sturms brach Larsen unter Fieber zusammen – vermutlich eine Infektion durch eine alte Schnittwunde. Rasmussen musste improvisieren. Mit einem von Inuit überlieferten Kräutertrank und einer selbst gebauten Wärmestelle im Zelt gelang es, Larsen zu stabilisieren. Der Sturm endete – doch das Vertrauen in das eigene Überleben war erschüttert.


Entdeckungen im gefrorenen Boden

Trotz der Strapazen setzten die Forscher ihre Arbeit fort. In einem alten Siedlungshügel stießen sie auf Gräber, Werkzeuge, Jagdgeräte und Überreste von Zelten aus Walrosshaut. Besonders ein Grab einer vermutlich schamanischen Frau sorgte für Aufsehen: es enthielt geschnitzte Amulette und eine Trommel – ein seltener Fund, der auf die spirituelle Welt der Thule-Inuit hinwies.

Rasmussen schrieb:
„Ich halte ein Amulett in der Hand, das vor Jahrhunderten einen Jäger vor dem Tod bewahren sollte. Jetzt liegt es in meiner warmen Faust. Wer war dieser Mensch? Was glaubte er? Und wie ähnlich sind wir uns – obwohl Zeit und Eis zwischen uns liegen?“


Ein dramatischer Rückweg

Der Rückweg nach Thule wurde zum Wettlauf gegen das Wetter. Der Frühling kündigte sich früh an – tückisch für Schlittenreisen, denn das Eis wurde instabil. In einem dramatischen Moment brach Rasmussen selbst durch eine Schneedecke und stürzte in eine mit Schmelzwasser gefüllte Senke. Nur durch das schnelle Eingreifen seiner Begleiter konnte er gerettet werden – halberfroren, aber lebendig.

Auch Larsen erlitt erneut gesundheitliche Rückschläge, und das Team musste Rast einlegen. Nahrungsvorräte wurden rationiert. Ein weiteres Mal zeigte sich die Kraft und das Wissen der Inuit: Sie fingen in einer riskanten Jagd zwei Robben – und retteten damit die Expedition vor der völligen Erschöpfung.


Ankunft in Thule – Zwischen Erschöpfung und Triumph

Am 20. Mai 1931 kehrte die Expedition nach Thule zurück. Rasmussen war gezeichnet – vom Frost, von Schlaflosigkeit, vom monatelangen Kampf gegen das Eis. Doch er hatte gewonnen: an Wissen, an Erkenntnis und an tiefer Bewunderung für die Menschen, die seit Jahrhunderten in dieser lebensfeindlichen Welt lebten.


Bedeutung der Expedition

Die 6. Thule-Expedition brachte wertvolle archäologische Erkenntnisse über die Thule-Kultur. Noch bedeutender aber war vielleicht Rasmussens Ansatz, indigene Kultur nicht nur zu erforschen, sondern zu respektieren. Die Expedition dokumentierte nicht nur Objekte, sondern Geschichten, Mythen und die spirituelle Welt der Inuit – und bewies einmal mehr, dass wahre Forschung immer auch Demut verlangt.


Fazit: Eine Reise ins Herz der Kälte – und der Menschlichkeit

Die 6. Thule-Expedition war mehr als eine archäologische Mission. Sie war ein Lehrstück in Mut, Freundschaft, Grenzerfahrung und wissenschaftlicher Leidenschaft. Knud Rasmussen, der „Dichter der Arktis“, bewies, dass selbst im tödlichsten Klima Erkenntnis, Ehrfurcht und Menschlichkeit gedeihen können – wenn man mit offenen Augen und offenem Herzen reist.