Einleitung
Anfang des 20. Jahrhunderts war die Erforschung der Arktis einer der letzten großen Abenteuerträume der Menschheit. Zahlreiche Nationen und wohlhabende Förderer rüsteten Expeditionen aus, um den Nordpol zu erreichen und noch unbekannte Gebiete zu kartieren. In diesem Kontext organisierte der US-amerikanische Polarforscher Anthony Fiala die von 1904 bis 1906 andauernde „Ziegler‐Expedition“ (benannt nach ihrem Mäzen William Ziegler) ins Franz‑Josef‑Land, um von dort aus zum Nordpol vorzustoßen. Obwohl das eigentliche Ziel – das Erreichen des Pols – nicht verwirklicht wurde, lieferte die Unternehmung wertvolle wissenschaftliche und geografische Erkenntnisse.
1. Hintergrund und Vorbereitung
Anthony Fiala (1869–1950) war ursprünglich Fotograf, bevor er sich ganz der Polarforschung widmete. Sein Interesse an den Polargebieten war durch die Berichte von Vorgängern wie Fridtjof Nansen und Robert Peary geweckt worden. Finanziert wurde seine Expedition von William Ziegler, einem wohlhabenden New Yorker Zucker‐ und Lebensmittel‐Magnaten, der sich zum Ziel gesetzt hatte, amerikanische Spitzenleistungen in der Arktis‑Forschung zu etablieren. Die Planung sah vor, im Spätsommer 1904 mit dem eigens angekauften Schiff “America” nach Franz‑Josef‑Land im hohen Norden Europas aufzubrechen und dort eine Basis zu errichten.
2. Logistik und Mannschaft
Die Mannschaft bestand aus rund 25 Teilnehmern: Seeleute, Geologen, Biologen, Meteorologen und Hundeexperten. Die wichtigste Ausrüstung umfasste Hundeschlitten, Zelte, Vorräte für zwei Überwinterungen, wissenschaftliche Instrumente und Kameras. Die Überfahrt von Tromsø (Norwegen) nach Franz‑Josef‑Land erfolgte über mehrere Etappen, wobei das Schiff mehrfach in Packeis geriet. Ein speziell eingerichtetes Depotschiff namens “Fram” sollte zusätzliche Vorräte nachliefern, erreichte die Basis jedoch nie rechtzeitig.
3. Aufbau der Basis und erste Schwierigkeiten
Im August 1904 erreichte die „America“ das Nordende von Franz‑Josef‑Land, nahe Kap Fligely auf der Insel Rudolf. Dort richtete das Expeditionsteam eine primäre Station mit Unterkünften aus Holzbaracken, Vorratslagern und einem kleinen Observatorium ein. Noch im selben Herbst planten Fiala und sein Offizier Eugene Mills erste Vorstöße mit Hundeschlitten in Richtung Nordpol. Doch das arktische Eis bewies sich als unbarmherzige Barriere: Stürme beschädigten Zelte, Vorräte mussten rationiert werden und die Temperaturen sanken auf bis zu –45 °C.
4. Eisdrift und Überwinterung
Die „America“ wurde durch den starken Eisdruck schließlich schwer beschädigt und geriet in eine treibende Eisscholle. Eine Rückfahrt war nicht möglich – die Mannschaft musste in der Anlage an Land überwintern. Dies zog sich über den Winter 1904/05 bis hinein ins Frühjahr 1905, wobei Nahrungsmittelknappheit, Skorbut sowie Erfrierungen zu großen gesundheitlichen Belastungen führten. Fiala verlegte ein weiteres Lager an die Küste von Wilczek‑Land, doch Transporte zwischen den Stationen waren nur unter Lebensgefahr möglich.
5. Zweiter Vorstoß und Abbruch der Expedition
Im Sommer 1905 unternahm Fiala einen zweiten Versuch, dem Nordpol näherzukommen. Mit etwa 30 Schlittenhunden und sechs Mann startete der Zug zwar beeindruckende 240 Kilometer nordwärts, doch dichter Nebel, rissige Eisschollen und der schlechte Gesundheitszustand der Tiere zwangen die Gruppe zur Umkehr. Die Erschöpfung hatte inzwischen auch das Team stark mitgenommen. Im September 1905 kehrte man zur Basis zurück – nur um festzustellen, dass das Versorgungsschiff „Fram“ immer noch nicht eingetroffen war. Schließlich ordnete Fiala im Frühjahr 1906 den Abbruch an; der Rückmarsch zur Zivilisation begann im Mai.
6. Rückkehr und Nachwirkungen
Erst im Juli 1906 erreichte die Mannschaft Nome (Alaska) – physisch erschöpft, aber lebendig. Technisch gesehen war die Expedition ein Fehlschlag, da der Pol nicht erreicht und ein wichtiger Nachschub an Ausrüstung sowie Proviant ausgeblieben war. Doch wissenschaftlich wurden umfangreiche Messungen zur Magnetik, Meteorologie, Geologie und Biologie der Region gewonnen. Fiala hatte zudem beträchtliches Kartenmaterial von bisher unerforschten Landstrichen angefertigt. Die Expedition trug damit entscheidend zum Verständnis des arktischen Eissystems und der geographischen Gegebenheiten rund um Franz‑Josef‑Land bei.
Schlussbetrachtung
Die Unternehmung von Anthony Fiala in den Jahren 1904–1906 steht exemplarisch für den mutigen, aber auch oft tragisch endenden Wettlauf um den Nordpol zur Jahrhundertwende. Trotz des Misserfolgs im Kernziel demonstrierte die Expedition bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit: ein willensstarker Führer, ein engagiertes Team und die ersten wissenschaftlichen Datensätze für Franz‑Josef‑Land. Fialas Bericht inspirierte nachfolgende Polarforscher und festigte das Verständnis dafür, dass der Nordpol nicht nur ein geografisches, sondern auch ein wissenschaftliches Ziel war. Die Lehren aus den Strapazen, Planungsfehlern und unvorhersehbaren Naturgewalten beeinflussten die Vorbereitung späterer Nordpolfahrten maßgeblich. So bleibt die „Ziegler‑Expedition“ von 1904–1906 ein leuchtendes Beispiel für menschlichen Forschergeist – auch dort, wo das Scheitern Teil des Erfolgs ist.
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